Kant: AA IX, Immanuel Kant über ... , Seite 490

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 der kritische Zeitpunkt, in dem die Würde des Menschen allein im Stande      
  02 ist, den Jüngling in Schranken zu halten. Frühe muß man aber dem      
  03 Jünglinge Winke geben, wie er sich vor diesem oder jenem zu bewahren      
  04 habe.*)      
           
  05 Unsern Schulen fehlt fast durchgängig etwas, was doch sehr die      
  06 Bildung der Kinder zur Rechtschaffenheit befördern würde, nämlich ein      
  07 Katechismus des Rechts. Er müßte Fälle enthalten, die populär wären,      
  08 sich im gemeinen Leben zutragen, und bei denen immer die Frage ungesucht      
  09 einträte: ob etwas recht sei oder nicht. Z. E. wenn Jemand, der heute      
  10 seinem Creditor bezahlen soll, durch den Anblick eines Nothleidenden gerührt      
  11 wird und ihm die Summe, die er schuldig ist und nun bezahlen      
  12 sollte, hingiebt: ist das recht oder nicht? Nein! es ist unrecht, denn ich      
  13 muß frei sein, wenn ich Wohlthaten thun will. Und wenn ich das Geld      
  14 dem Armen gebe, so thue ich ein verdienstliches Werk; bezahle ich aber      
  15 meine Schuld, so thue ich ein schuldiges Werk. Ferner, ob wohl eine      
  16 Nothlüge erlaubt sei? Nein! es ist kein einziger Fall gedenkbar, in dem      
  17 sie Entschuldigung verdiente, am wenigsten vor Kindern, die sonst jede      
  18 Kleinigkeit für eine Noth ansehen und sich öfters Lügen erlauben würden.      
  19 Gäbe es nun ein solches Buch schon, so könnte man mit vielem Nutzen      
  20 täglich eine Stunde dazu aussetzen, die Kinder das Recht der Menschen,      
  21 diesen Augapfel Gottes auf Erden, kennen und zu Herzen nehmen zu      
  22 lehren.-**)      
           
  23 Was die Verbindlichkeit zum Wohlthun betrifft: so ist sie nur eine      
  24 unvollkommene Verbindlichkeit. Man muß nicht sowohl das Herz der      
  25 Kinder weich machen, daß es von dem Schicksale des Andern afficirt werde,      
  26 als vielmehr wacker. Es sei nicht voll Gefühl, sondern voll von der Idee      
  27 der Pflicht. Viele Personen wurden in der That hartherzig, weil sie, da      
  28 sie vorher mitleidig gewesen waren, sich oft betrogen sahen. Einem Kinde      
  29 das Verdienstliche der Handlungen begreiflich machen zu wollen, ist umsonst.      
  30 Geistliche fehlen sehr oft darin, daß sie die Werke des Wohlthuns als etwas      
           
    *) Das früheste Gefühl dieser Würde ist die Scham, daher Pudor primus virtutis honos. Vergl. Horat. Sat. I 6. 82. A. d. H.      
           
    **) Es fehlt uns nun nicht mehr an Katechismen der Rechte und Pflichten, und unter diesen sind manche sehr brauchbar. Auch wird in manchen Schulen wirklich schon auf diesen nothwendigen Theil des Unterrichtes Rücksicht genommen. Aber es ist noch Vieles zu thun übrig, um Kant's schöne Idee ganz zu realisiren. A. d. H.      
           
     

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